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Eine trinkfreudige alte Frau, ein Hund namens Tarzan – in Michael Weber’s Roman „Martha“ zeigt sich der Kiez von seiner anrührenden Seite. Am Anfang ist Husten zu hören. Ein Raucherhusten, festsitzend und hartnäckig, der im nächsten Moment abgelöst wird durch ein kehliges und herzliches Lachen. Es kommt das Geräusch schwankender Schritte im Treppenhaus hinzu. Es knarzt bei jedem Schritt auf den ausgetretenen Stufen, begleitet von Tapsern, die der kleine Hund macht, der sein Frauchen begleitet. Sie heißt Martha, er Tarzan. Mensch und Hund sind zurück vom geselligen Seniorentreff im Nachbarschaftsheim in der Silbersackstraße, und Martha hat, wie so oft, zu viel getrunken.Milieubeschreibungen dieser Art liefert ein neues St.-Pauli-Buch mit dem Titel „Martha“, das der Schauspieler Michael Weber geschrieben hat. Damals, Anfang der 80er-Jahre, traf er als Mieter auf das Ehepaar Ernst und Martha Ihde in ihrem Haus in der Davidstraße. Es sind also seine Erinnerungen, die er aufgeschrieben hat. Weber, der heute zum Ensemble des Deutschen Schauspielhauses gehört, stand in jenen Jahren am Anfang seiner Karriere, die ihn später nach Frankfurt und Bochum, Zürich und Wien und nach Köln brachte, und spielte am Thalia Theater. Sein Roman über die Menschen auf dem Kiez ist persönlich und etwas Besonderes inmitten des Leseangebots von Schrägem und vermeintlich Lustigem, das schon über diesen Stadtteil zwischen Elbe und Stresemannstraße, zwischen Millern- und Nobistor geschrieben wurde.
Michael Weber, 56, kommt ursprünglich aus Pinneberg, ist dort aufgewachsen und das prägt. Pinneberg, das muss man als Nicht-Hamburger wissen, gilt als Stadtteil der Landeier. Von dort will man als junger Mensch weg – unbedingt. Zugleich aber, weil einem die bürgerliche Grundierung durch Lehrerwohnungen etwa in der Isestraße fehlt, bringt man von dort ein großes Herz mit. Auch für die, die nicht ganz so kompatibel für die Mittelschichtsgesellschaft scheinen. Und so lernen sie sich kennen: Martha und der angehende Schauspieler Michael, als der 1982 in die Davidstraße zieht, mit wechselnden Freundinnen, aber auch Mitbewohnerinnen.
Man trifft sich auf der Treppe (mit Hund), bleibt stehen und schwatzt. Man hält sich untereinander auf dem Laufenden, feiert auch so manches Mal alkoholumnebelt zusammen, leiht sich Kohlen, wenn das Geld knapp ist und es ist bei beiden immer mal knapp. Oder man klingelt beim anderen, wenn man sich länger nicht gesehen hat und es einem auffällt. „Es war ein nachbarschaftlich-freundschaftlich Verhältnis, aber es gab keine familiäre Verpflichtung“, erinnert sich Weber. Zugleich schaute man gebannt auf das Anderssein des anderen.
Es gibt in dem Buch eine Schlüsselszene, mit der Weber sehr genau und zugleich sehr anrührend davon erzählt, welche Welten in der Davidstraße aufeinandertrafen. Michael Weber nimmt Martha Ihde mit ins Theater, nach Bremen. Dort steht sein Schauspielfreund Konstantin auf der Bühne, einer, der auch in der Davidstraße ein- und ausgeht. Gegeben wird ein Edward-Bond-Stück, „Gerettet“. Konstantins Rolle: Er spielt den Fred, der seine schwangere Freundin verlässt, die in höchster Not ist.
Martha schaut sich das brav an. Martha sagt hinterher nicht viel. Doch auf der Fahrt zurück mit dem Auto und mitten auf der Autobahn, bricht es plötzlich aus ihr heraus und sie herrscht den neben ihr sitzenden Konstantin an, wie er es wagen könne, eine Frau so abgrundtief schlecht zu behandeln: „Ganz egal, ob es so ein Stück ist oder nicht.“
Doch das nachbarschaftliche Glück währt nicht ewig. Martha erkrankt, Krankenhausbesuche folgen. Erst in Altona, dann – als wäre nicht schon alles schlimm genug – geht es auf die andere Elbseite, ins Krankenhaus nach Harburg. Dorthin, wo St. Pauli doppelt weit weg ist. „Und ab jetzt verschwimmen auch meine Erinnerungen“, gibt Michael Weber zu. „Ich weiß nur noch, es war nicht einfach. Man konnte nicht mehr schnell nach oben gehen und eine Runde quatschen.“
Nicht, dass mit Martha über alles geredet wurde. „Es gab vieles, über das nicht gesprochen wurde. Das Verhältnis zu ihrem Sohn beispielsweise war schlecht, das zu ihrer Tochter war sogar sehr schlecht.“ Und so erzählt „Martha“ auf ganz eigene Weise von dem eisigen Schweigen, das offenbar zum tiefen Wesen dieses Kosmos namens Familie gehört.
„Ich habe immer gern gelesen, aber ich habe nie gedacht, ich müsste selber schreiben“, sagt Weber. Deshalb hat er damals, in seiner Martha-Zeit, auch keine systematischen Notizen gemacht, und kein Tagebuch geführt. Das war aber auch nicht nötig, wie er später feststellte. Denn als sich am Ende nach vielen Jahren doch immer stärker der Wunsch bemerkbar machte, über diese ihn prägenden Jahre mit Martha etwas zu schreiben und damit etwas über Martha zu hinterlassen, erinnert er sich auch so.
Zugleich fasziniert ihn die Schlichtheit des Schreibens. Ihn, der es als Theatermensch gewohnt ist, dass er vom Intendanten über den Regisseur bis zu den Kollegen von einem ganzen Tross an Leuten umgeben ist, mit dem er sich nicht zuletzt künstlerisch arrangieren muss. „Ich dachte, Schreiben, das kann man alleine. Dazu braucht man kein Team, dazu braucht man kein Produktionswerkzeug. Stift und Papier reichen.“ So reift der Gedanke daran, selbst etwas zu schreiben. Erst einmal nur für sich selbst.
Die Gelegenheit ergab sich während eines Engagements am Theater in Kopenhagen. Dorthin hatte ihn ein Freund aus frühen Jugendtagen gelotst. Der lebte seit Langem in Dänemark und war Theaterregisseur geworden. Weber stand also abends auf der Bühne, spielte, musizierte auch, und tagsüber hatte er Zeit. Zeit, die er nicht unnötig verschwenden wollte. Er setzte sich hin und begann seinen Martha-Text zu schreiben. Als er ihn fast fertig hatte, kehrte er nach Deutschland zurück – und ließ den Text erst einmal liegen.
„Nach einem Jahr etwa habe ich noch mal draufgeguckt. Etwas sorgenvoll, weil man kennt das ja. Man schreibt etwas, findet es toll, und nach einiger Zeit denkt man, oh, je!“, erinnert er sich. Doch dieser Test fällt ganz anders aus. „Ich dachte, das würde ich auch gern lesen.“ Weber nimmt sich den Text noch einmal gründlich vor, ergänzt, streicht, stellt Passagen um – bis „Martha“ fertig ist.
Das Ergebnis ist ein Roman, der klug und anrührend, tragisch und komisch zu erzählen weiß. Auch und besonders wegen der Hauptfigur. „Martha war keine Ikone“, sagt Weber. „Der Austausch zwischen uns war gegenseitig. Ich habe etwas von ihr bekommen, und sie hat etwas von uns bekommen.“ Heute nennt man das eine Win-win-Situation.
Großes Herz aus Pinneberg
Frank Keil (WaS-Artikel vom 04.01.2015 / Ausgabe 1 / Seite 14)